Montag, 4. Oktober 2010

Gefangen in der Zwischenwelt – über Emanzipation und Liebe

Wir treffen uns im Büro, Ute und ich, während ich ein Curriculum für den A1.4-Deutschkurs erarbeite und Ute ein paar Sachen für ihren Unterricht kopiert. Ute ist nett, fragt danach, was mich in die Staaten gebracht hat. Ich bin ehrlich: mein Mann. Er macht seinen Doktor, ich arbeite ehrenamtlich für die Uni und das German Culture Institute. Das Visum lässt keine bezahlte Arbeit zu. Nein, natürlich ist das nicht optimal. Schon gar nicht für die Karriere. Aber so ist das im Leben: manche Dinge tut man eben aus Liebe. Ute hebt ihre Brauen, mustert mich von oben bis unten. Sie kann ihre Verachtung nicht verbergen, als sie „Hallooo Emanzipation!“ in meine Richtung seufzt. Über ihre Entscheidung, für einen Mann damals länger als geplant in Spanien zu bleiben, spricht sie ganz selbstverständlich. Ist ja auch was anderes! Sie überlegt, ob sie nicht noch ihren Doktor machen will. Nur für sich selbst, versteht sich. Nicht aus Karrieregründen. Huuch, ist das schon spät, jetzt muss sie aber wirklich in die Klasse! Wir verabschieden uns, sehen uns jetzt ja bestimmt öfter.
Ich bleibe mit einem komischen Gefühl in der Magengegend zurück. Schäme mich fast ein bisschen für den Kuchen, den ich gestern für meinen Mann gebacken habe, weil er so gerne Süßes isst… Mein Ehering glitzert mich höhnisch an. So fühlt man sich also mit einem Stigma. Die Mädels am Empfang gehen nach der Arbeit noch was Trinken. Ich lehne ab. Stefan macht sich nur wieder Sorgen, wenn ich zu spät komme. Und anstatt mich auf den Schwingen der Selbstverwirklichung und Emanzipation durch die Nacht tragen zu lassen, fahre ich in einem vollgepissten Bus nach Hause. Zu Schatzi und meinem selbstgebackenen Kuchen.
Tja, und hier sitze ich nun. Zwischen meinen Deutschbüchern und der Springform und denke darüber nach, in welcher der beiden Welten ich lebe. Meine Gedanken schweifen ab zu den Mädchen in meinem Dörfchen, die früh Mütter werden und dir auf die Frage, was sie so machen, trotzig entgegen schleudern: „Ich bin Vollzeit-Mami. Und zwar gerne!“ Oh, ja. Ich war die Erste, die voller Hochmut ihre Augenbrauen hochzog und sich dachte: „Du, mein Schätzchen, bist ein Vollzeit-Schlag ins Gesicht der Emanzipation!“. Dann habe ich meistens auf dem Absatz kehrt gemacht und bin hoch erhobenen Hauptes zurück in mein Leben gegangen, dass in meinen Augen sehr modern und selbstbestimmt war: studieren, mit 20 noch nicht Mutti, jede Nacht ´ne andere Party und vor allem: nicht mal ein Ei braten können. Der Gipfel der Emanzipation: sich konsequent dem Herd verweigern. Alice Schwarzer wäre so stolz auf mich gewesen!
Zurück in der Gegenwart: mein Kuchen ist gelungen. Schatzi freut sich, statt Wodka gibt´s Kakao und morgen Frühstück statt Kater. Verlegen rutsche ich auf meinem Stuhl rum, als es mich wie ein Schlag trifft: ich fühle mich wohl! Schuldgefühle überkommen mich: Bin ich jetzt der Schlag ins Gesicht der Emanzipation? Alle Zeichen sprechen dafür: statt selbstbewusst jede Nacht mit einem anderen Mann meine Sexualität auszuleben, einfach, weil ich es kann, lebe ich monogam. Wenn ich koche, wird kein Feueralarm ausgelöst und das Resultat dieser Tätigkeit erzeugt weder Übelkeit noch Erbrechen. Ich verdiene nicht mal Geld, dass ich dann für Schuhe ausgebe, in denen man sich die Füße bricht! Und mein Bedürfnis danach, möglichst viel ohne meinen Mann zu machen, denn man muss sich ja stets seine Unabhängigkeit bewahren, hält sich doch sehr in Grenzen. Was ist denn nur passiert? Wie konnte es soweit kommen? Oh, nein. Die gesamte EMMA-Redaktion stehe mir bei, denn ich habe gesündigt: ich liebe diesen Mann. Irgendwann zwischen dem konsequenten Kampf um Selbstverwirklichung, Unabhängigkeit und dem Zubereiten von Tiefkühlkost muss es passiert sein: aus dem Ich ist ein Wir geworden. Das große wabernde Wir, das es zu vermeiden gilt, denn es ist böse und treibt dich in die Abhängigkeit von einem Mann, hat mich eingeholt. Aber es fühlt sich nicht beängstigend an, sondern schön. Ich fühle mich auch nicht abhängig, sondern sicher. Wie angekommen nach einer langen Reise.
Stefan bringt mich auf einen ketzerischen Gedanken: habe ich mich vielleicht von der Emanzipation emanzipiert? Hahaha. Sowas kann wieder nur von einem Mann kommen! Tja, sein Geschlecht musste eben nie BHs verbrennen und sich ein Wahlrecht erkämpfen. Die moderne Frau von heute hat glücklicherweise alle Möglichkeiten: wir können raus in die Welt gehen, die Pille nehmen, von früh bis spät arbeiten und mehrere Männer haben, wenn wir wollen. Vor 100 Jahren wäre das noch nicht so einfach möglich gewesen!
Ich denke wieder an Ute und bringe dabei die Modalverben durcheinander. Wir können, wenn wir wollen. Oder müssen wir, auch wenn wir nicht wollen, nur weil wir können? Wie behält man als moderne Frau von heute seine Würde, wenn man mit 25 Jahren einen Ring am Finger hat und total verliebt einen Hackbraten macht? Wie überlebt man zwischen all den Single-Frauen im Büro, die „[…] erst mal so lange ihr Leben genießen und Spaß haben, bis der Richtige kommt.“ Und zeugt so eine Aussage wirklich von Emanzipation? Oder Selbstbetrug? Spaß haben, bis der Richtige kommt. Und dann ist der Spaß vorbei, oder was? Dann kann man sich die Kugel geben oder ist das Ziel dann erreicht? Was passiert denn dann? Und ist es wirklich Spaß, sein Leben damit zu verbringen, auf den Richtigen zu warten?
Stefan macht mittlerweile den Abwasch. Da fühle ich mich gleich wieder ein bisschen emanzipierter! Es ist spät geworden, ich bin müde nach meinem langen Tag im Büro. Und auch wenn ich ab und zu einen Kuchen backe, ist es trotzdem schön, zu arbeiten. Dieser Goethe würde wieder mit den zwei Seelen in seiner Brust anfangen. Ich denke, da hat er vielleicht gar nicht so unrecht. Glücklicherweise hat man als Frau zwei Brüste. Zufall? Vielleicht kann man als moderne, emanzipierte Frau von heute auch lieben und für diese Liebe die Karriere mal eine Zeit lang auf Eis legen, ohne das Gesicht zu verlieren? Vielleicht kann Emanzipation auch bedeuten, herauszufinden, womit man sich wohl fühlt in diesem Leben und dann selbstbewusst dazu zu stehen? Und vielleicht muss ich nicht die harte Karrierefrau sein, weil ich nicht will. Aber wichtig ist, dass wir können. Wenn wir wollen.
Und damit nehme ich mir mein Buch. Ich habe die Wahl: es auf dem Kopf balancieren und damit Germanys Next Topmodel werden oder es aufschlagen und lesen? Ich entscheide mich für Letzteres und überlasse Ersteres den Frauen, die sich damit wohler fühlen als ich.