Mittwoch, 22. Dezember 2010

Willkommen und Abschied

Wir haben „Tschüss“ gesagt und uns ganz fest gedrückt. Wir haben beide mehr oder weniger erfolgreich versucht, nicht zu weinen und an das Wiedersehen zu denken.
Aber als ich alleine im kühlen, vorweihnachtlichen Atlanta zum Bus trotte, in dem es schon wieder nach Pisse riecht, wird mir doch ein wenig schwer ums Herz. Nun muss ich meine neugewonnene Freundin ziehen lassen und ich frage mich, ob ein paar halbleere Shampooflaschen wirklich alles sind, was bleibt. Ein kühler Schauer läuft mir über den Rücken, als ich feststelle, dass man sich auch nach sechs Jahren Philosophiestudium noch ABBA hörend voller Wehmut und Sehnsucht über den Sinn des Abschied Nehmens reflektierend finden kann. Bisheriges Ergebnis des professionellen Nachdenkens: Abschiede stinken. Man kann sie nicht vermeiden, aber sie sind schmerzhaft und unfair.
Ich habe Marlen getroffen, als wir gerade mal zwei Wochen in Atlanta wohnten. Von Anfang an hat uns mehr verbunden, als das gemeinsame Schuften fürs Goethe-Zentrum und unsere Vorliebe für die Schicksalsberichte irgendwelcher Haremsfrauen, mit der der Weltbild-Verlag vierteljährlich seine emanzipierte Leserschaft beglückt. Ja, wir sind uns einig: Lady Di war garantiert keine einfache Frau und als Marlen mir in die Augen schaut und mir ihre Leidenschaft für kühles Bier verkündet, ist sie besiegelt, unsere Freundschaft. Marlen ist sicherer als ich, wenn wir durch die Straßen schlendern. Die große Stadt verstört sie nicht im Geringsten und vor den Pennern hat sie schon lange keine Angst mehr. Wir gehen aus, sie bestellt für uns beide, weil es mir mal wieder die Sprache verschlägt, als der Kellner mich fragt, was ich trinken möchte. Wenn ich Marlen treffe, geht´s mir gut. Das Heimweh ist nur halb so schlimm, die Staaten sind nur halb so fremd. Marlen lacht, ist immer optimistisch und macht mir Mut, dass sich alles schon regeln wird, auch wenn mir der Geldautomat gerade jegliche Auszahlung verweigert. Schon bald sind wir ein eingespieltes Team, können die andere einschätzen. Wir gehen shoppen, retten uns gegenseitig vor den hinterhältigen Attacken des schleimigen Jim Surbers, lieben und hassen gemeinsam. Ja, es ist malerisch. In einem Kinderfilm würden wir jetzt zusammen bei strahlendem Sonnenschein durch eine Blumenwiese springen, um die Intensität unserer Beziehung zu verdeutlichen.
Aber hier ist sie wieder, die Realität. ABBA bringt es auf den Punkt: „One of us is lonely, one of us is only waiting for a call…”. Und so umschlingt mich das gefährlichste Gefühl der Welt: Selbstmitleid. Und plötzlich holt mich ein, was ich bisher erfolgreich verdrängt hatte, weil ja alles so toll und neu und aufregend ist und weil man gefälligst als Frischvermählte 24 Stunden 7 Tage die Woche wie ein chinesischer Glückskeks zu strahlen hat: Sehnsucht nach denen, die ich zurückgelassen habe. All die Abschiede, die ich zum Schluss schon fast routiniert hinter mich brachte, schmerzen jetzt. Ja, Mariah Carey, du sagst es: “I miss you most at christmas time.” Jetzt ist auch nicht mehr wichtig, ob ich Weihnachten in den USA toll finde oder nicht. Denn für mich ist das gerade sowas von egal, da ich nicht weiß, wen von all den liebgewonnenen Menschen in meinem Leben ich immer wieder willkommen heißen darf und von wem es vielleicht ein Abschied für immer ist. Welche Freundschaften schaffen es, weiter zu bestehen und wer zieht irgendwann ohne mich durchs Leben? Weihnachten, das Fest der Liebe und der Melancholie. Seid euch sicher, ihr Lieben, dass ich euch mitgenommen habe hierher und an euch denke, wenn mich abends der pinke Plastikflamingo mit seiner Weihnachtsmannmütze im Vorgarten anleuchtet. Es ist das erste Weihnachten ohne euch in diesem komischen Land, aber vergessen habe ich euch nicht. Werde ich auch nicht, denn manchmal hinterlassen Menschen eben mehr als halbleere Shampooflaschen und das lohnt es sich festzuhalten, immer und immer wieder.